Sonntag, 13. Februar 2011

A Journey ...

Nachdem gründlich abgekackt wurde und man reichlich gefrühstückt hat, geht es morgens um 06:27 los. Heuer etwas später, man hat noch seinen Schlüssel gesucht. Der kurze Marsch zum Zofinger Hauptbahnhof beginnt.

Aus dem Walkman dröhnt „I'm Gonna be 500 Miles“ von den Proclaimers. Die Gedanken kreisen bereits jetzt, um den herzhaften Wunsch, einen rauchigen Whisky zu konsumieren. Die Hand gleitet nun auch in die Jackentasche, doch leider muss man feststellen, dass der Flachmann heuer zu Hause gelassen wurde.

Man kommt deshalb bereits leicht verärgert am Bahnhof an. Da stehen auch schon die üblichen Verdächtigen. Allen voran die fünfköpfige Juso-Ortsgruppe, welche jeden morgen zusammen mit dem Zug zur Arbeit gleitet. Man marschiert also geschlossen gegen den Klassenfeind.

Auf der anderen Seite des Bahnsteiges steht ein älterer Herr. Er freut sich endlich auf die Arbeit gehen zu können. Seine Frau hat ihn das ganze Wochenende mit der geplanten Anschaffung eines Induktionskochherds genervt. Dieser sei viel energieeffizienter. Für ihn bedeutet dies allerdings, dass er die teure Reise nach Gran Canaria mit seinen Kollegen vom Schiessverein vergessen kann.

Etwas weiter weg steht eine Blondine. Sie ist bereits fünfzig, zieht sich aber immer noch wie mit zwanzig an. Bereits mit 17 ist sie von zu Hause weg und mit dem Fussballer „Bäschu“ zusammengezogen. Doch als die Karriere von „Bäschu“ scheiterte und er zum Trinker wurde, ging auch die Beziehung in die Brüche. Sie versuchte sich ohne Schulabschluss als Barmaid durchzuschlagen. Anfangs ging dies gut. Sogar der Pfarrer, welcher ihr bei einem Besuch dieses Lotterleben ausreden wollte, konnte sich über ihre „Qualitäten“ erfreuen. Doch nach einer gescheiterten Gesangskarriere und fünf Ehen steht sie nun alleine da und qualmt am Bahnsteig gedankenverloren ihre letzte Maroquain bevor die ganze Meute in den Zug einsteigt.

Leider verweigert der Walkman bereits vor Olten seinen Dienst. Man greift nun halt auf das geschriebene Medium, welches vor einem liegt und dessen Titel suggeriert, dass ein durchschnittlicher Leser weniger als eine Halbestunde benötigt, um sich mit den „Artikeln“ über die Welt zu informieren.

Bereits erklingt die Stimme des Zugführers, man werde Olten pünktlich erreichen. Alleine diese Ankündigung zeigt, wo die Bahn bereits steht. Denn ist es nun wirklich erwähnenswert, dass man pünktlich ankommt. Dies sollte doch vielmehr eine nicht erwähnenswerte Selbstverständlichkeit darstellen.

Nun beginnt die Schlacht. Man kämpft sich wie ein Footballspieler vom Gleis 11 durch die Menschenmassen zum Gleis 2. Das Aufeinanderprallen der Menschen in der Unterführung erinnert dabei ans Aufeinanderprallen der verfeindeten Gangs vom Musical West Side Story. Nur ohne schwuchtliges Tanzen und Schnippen.

Trotzallem kommt man Heil aufm Gleis 2 an. Da rollt auch schon der Zug ein. Von der freundlichen Stimme aus dem Lautsprecher wird man informiert, dass zwei Wagen am Schluss des Zuges für die örtliche Hauptschule reserviert sind. Man findet trotzdem einen Sitzplatz.

Nun überlege ich mir, ob ich bereits jetzt mit dem Cicero – einem Magazin des Verlegers Michael Ringier – beginnen sollte oder ob ich noch etwas dösen möchte. Ich lese einen Artikel über neue hypothetische Bündnismöglichkeiten nach einem Zerfall der Europäischen Union.

Neben mir sitzt Claudine. Eine 16-Jährige Brünette. Die heuer traurig aussieht. Sie erklärt ihrer Kollegin, welche diagonal von mir sitzt und wie Kate Moss nach einer Schlankheitskur aussieht und damit das wohl beste optische Gegenteil von Claudine bildet, das Pascal sie am Wochenende sitzen gelassen hat. Er habe eine Neue. Recht hat er. Denn ein Mann der Wirtschaft weiss, dass man gelegentlich die Strategie anpassen sollte und in neue Märkte investieren muss. Eine Diversifikation sozusagen. Die Entscheidung ist auch ökonomisch. Pascal spart sich so intelligent den Kauf einer Lady Gaga CD, welche sie sich zum Valentinstag wünschte. Die dünne Kate Moss versucht sie mit einem Gespräch über den süssen Justin Bieber abzulenken. Dies veranlasst mich wiederum über das Getränk von weiter oben zu denken. Item.

Im Abteil rechts neben mir sitzen Frank und Veronika. Frank und Veronika fahren nun seit 20 Jahren zusammen zur Arbeit. Sie sind der Inbegriff der Pendler, wie sie in der Modellwelt von Alt-Bundesrat Moritz L. ersonnen wurden.

Etwas weiter hinten sitzt Annabelle. Deren Anblick das Einzige ist, was einem an diesem trüben Morgen erwärmt. So wage ich eine kleine Abschweife ins Reich der Träume. Doch leider werde ich abrupt aus Cancun, wo sich Annabelle im Sand räkelt und ihren Appletini schlürft, in die reale Welt zurück geholt.

Der deutsche Zugführer erklärt im Tonfall eines preussischen Offiziers, dass man aufgrund einer Stellwerkstörung circa 10 Minuten später in Zürich einfahren wird.

Dies ist der Auftakt zur grossen Schau von Frank. Er errechnet in nur wenigen Millisekunden eine alternative Reiseroute für sich und seine Gefährtin. Man müsse in Zürich nun den 47iger auf Gleis 23 nehmen. Er wird heute Abend in einem glorifizierenden Ton diese Heldentat seiner Frau berichten. Seine Frau wird dies, wie immer wenn er etwas von seinem Pendlerleben erzählt, als Anlass nehmen ihm Vorzuwerfen, dass er ein Verhältnis mit Veronika habe. Dies wird er vehement bestreiten. Nichtsdestotrotz wird sie für ein paar Tage zur ihrer Schwester ziehen, welche in einer Frauen-WG lebt und eine Duz-Kollegin von Alice Schwarzer ist. Dies wird er zum Anlass nehmen im Gartenhaus einen Umtrunk zu veranstalten. Dabei wird auch die Blondine, welche mit 17 von zu Hause abhaute, eingeladen. Er wird dann infilgranti von seiner Geliebten – Veronika – erwischt. Das ganze endet damit, dass der Nachbar – der ältere Herr dessen Frau sich ein Induktionskochherd wünscht – die Polizei ruft.

Mich nervt diese „Stellwerksstörung“ einfach nur. Doch es bleibt mehr Zeit für die Konsumation ein paar weiterer Artikel in meinem Magazin für politische Kultur.

Im Abteil von Frank und Veronika sitzt im Übrigen auch Gustav. Gustav kommt ursprünglich aus Cottbus und war, als die Mauer noch stand, ein treues Mitglied der FDJ und Sieger der sozialistischen Jugensportspielen 1976 in Brandenburg. Doch auch heuer braucht Gustav einen Anführer. Sein neuer Anführer kommt aus den USA. Gustav hat nicht nur sämtliche Gadgets von ihm geholt, sondern auch sein Aussehen komplett ihm angepasst. Er trägt ausschliesslich schwarze Rollkragenpullover und hat sich eine ovale Brille geholt, obwohl seine Sehschärfe so gut ist, dass ihn damals die FDJ-Kollegen stets Adlerauge nannten. Für ihn ist die Verspätung nicht schlimm. Er nützt die Zeit fürs Herunterladen von paar neuen Apps. Doch Frank und Veronika erinnern sich noch, als der Zug im Winter 2007 ebenfalls eine zehnminütige Verspätung hatte. Dies hatte zur Folge, dass der gute Gustav kein iPhone erhalten hatte. Er war zu spät beim Apple-Store. Gustav verfiel schweren Depressionen und plante schon seinen Freitod. Nur ein guter Freund, welcher drüben für die Staatssicherheit tätig war und seit 2008 einsitzt, konnte ihn aus der Verzweiflung befreien.

Wie geht diese Zugreise weiter? Sie erfahren es auf Moe's Blog.